Reise des Vikarskurses Friedberg II/92 der EKHN /

Erlebnisse in Nicaragua
Ökumene erleben und erfahren


VikarInnen reisen nach Nicaragua Sechzehn Vikarinnen und Vikare der Evangelischen Kirche in Hessen Nassau aus dem Theologischen Seminar in Friedberg unternahmen im Februar 1994 eine Studienfahrt nach Nicaragua. Wir hatten festgestellt, daß in unserer theologischen und praktischen Ausbildung zur Pfarrerin und zum Pfarrer das Thema "Dritte Welt/Ökumene" kaum eine Rolle spielt.


So entstand unsere Idee. Was dachten wir uns dabei? Wir wollten nicht mehr nur über die weltweite Ökumene sprechen, sondern sie auch einmal erfahren. Wir interessierten uns für die dortigen Kirchen und Frömmigkeitsformen und wollten mit den Menschen Gottesdienste feiern. Denn es ist etwas anderes, darüber zu lesen, als es zu erleben. Wir wollten wissen: Wie weit bewährt sich die Gesprächsfähigkeit unseres eigenen Glaubens? Was habe ich damit zu schaffen, wenn es in Nicaragua Arme gibt? Wir hofften, durch diesen Austausch auch unsere eigenen theologische und kulturelle Prägungen besser verstehen zu lernen, zumal unsere Welt immer stärker nur noch als "Eine Welt" zu verstehen ist. So fuhren wir nach Mittelamerika. In diesem Artikel für das Hessiche PfarrerInnenblatt wollen wir zwei konkrete Erfahrungen dieser Reise beschreiben: Unseren ersten Gottesdiensbesuch in Managua und unsere Fahrt zu den Menschen auf der Hacienda "La Esperanza".

Unser erster Gottesdienst
In Managua erleben wir unseren ersten nicaraguanischen Gottesdienst. Er ist lebendig und voller Bewegung; man spricht miteinander und der Pfarrerin. Menschen kommen und gehen, denn die Kirche ist ganz und gar offen. Man sieht draußen Jugendlichen eine Partie Baseball spielen. Die Kirche steht mitten in einer lebhaften Straße, manchmal bleiben Leute auf dem Bürgersteig vor der Tür stehen und sehen kurz zu, gehen weiter. Man hört den Lärm der Autos und LKWs, aber es ist nicht störend. Wir werden -hier wie auch später- herzlich willkommen geheißen. Die Menschen freuen sich, daß wir da sind. Wir staunen über ihre Gastfreundschaft und wie gerne sie das wenige, was sie haben, teilen.

Der Gottesdienstablauf ist fremd für unsere Ordnung und Disziplin gewohnten Gemüter. Es gibt keine festen liturgischen Abläufe. Norbert sagt: "Ein ganzheitlicher Gottesdienst, mit Herzen, Mund und Händen." Viele Menschen gestalten die Liturgie mehr oder weniger spontan mit. Eine Frau liest aus der Schrift, ein Mann spricht ein freies Gebet, jemand singt. Später diskutieren wir darüber, wie uns diese Art Liturgie gefällt. Wir wünschen uns mehr Leben in unseren Gottesdiensten, und das zu Recht. Es geht bei uns oft zu wenig menschlich zu. Aber kann dies hier ein Modell für uns sein? und verflacht die Liturgie nicht auch zu einem Durcheinander wenig zusammenhängender Einzelteile? Andererseits: Wenn man Menschen die Teilnahme am Gottesdienstgeschehen verweigert, beteiligt man sich daran, sie kleinzuhalten. Hier wie dort.
Die Atmosphäre ist entsprechend des Ablaufs locker, ohne lässig zu sein. Vor allem, wenn die Menschen singen und beten, spürt man ihre tiefe Gläubigkeit. Sie sind fromm, bibelfest und fundamentalistisch - aber nicht autoritär! - und durchaus sehr kritisch. Wir hören bewunderswert kontextuelle Auslegungen, wo sich die Menschen als diejenigen verstehen, für die Christus kämpfte und die auch selbst handeln müssen, damit sich etwas bessert. Dabei geht es um ganz alltägliche Dinge: Praktische Nachbarschaftshilfe, Alphabetisierungkurse, für die man sich nicht schämen muß, Hygiene und Gesundheit und vieles mehr. Es gibt aber auch anstelle der klassischen Predigt Diskussionen und gemeinsames Ringen um den Text, wenn die Pfarrerin die Gemeinde durch Fragen einbezieht: "Wie haltet Ihr das denn Zuhause mit der Untertänigkeit der Frau?" Da darf auch gelacht werden. Wunderbar, wie lebensnah unser Glaube sein kann!
Wir sind beeindruckt und sprechen in diesen Tagen viel über Spiritualität. Die nicaraguanische Frömmigkeit ist ein bereicherndes Erlebnis durch alle christlichen Denominationen hindurch, denen wir begegnen. Sie gibt der Erfahrung der eigenen Gottesbeziehung mehr Raum als unsere nüchternen Sonntagsgottesdienste. Einige von uns sind im wahrsten Sinne des Wortes be-geist-ert und überlegen, wie man diese Spiritualität nach Hause mitnehmen könnte. Andere geben zu bedenken, daß Kopien eben keine Originale sind und man nicht alles kopieren kann und muß.

Auf der Hacienda: La Esperanza
Wir besuchten das -im Enstehen begriffene- Dorf "La Esperanza" (auf deutsch: Die Hoffnung). "La Esperanza", so hießt auch die Hacienda, auf der diese Leute als Tagelöhner früher gearbeitet haben. "La Esperanza" war in den Zeiten der Revolution verstaatlicht, und die ehemals abhängigen Arbeiter hatten die Bewirtschaftung der Ländereien übernommen. Keiner hatte sich darum gekümmert, irgendwelche Besitztitel für Land, Grundstücke und Häuser zu bekommen. Wozu auch? Es war doch alles geregelt. Dank der Revolution waren sie die Herren über das Land, und sie arbeiteten hart auf La Esperanza. Doch die Sandinisten verloren die Wahlen und die Macht. Wahrscheinlich stimmten viele der ehemaligen Tagelöhner gegen die Revolution, weil sie nicht weiter mitansehen wollten, wie ihre Söhne im Kriege ermordet wurden. Ironie der Geschichte?

Dann gab die neue neoliberale Regierung die Hacienda ihrem ehemaligen Besitzer zurück und die Herren über "La Esperanza" für 11 Jahre verloren alles, was sie besaßen und sich in den 11 Jahren revolutionärer Träume aufgebaut hatten. Die neuen und ehemaligen Großgrundbesitzer verboten den Arbeitern, die Länder für ihre Zwecke zu bebauen und nahmen ihnen die Grundstücke, auf denen sie ihre Hütten gebaut hatten. Sie wurden vertrieben von dem Stück Erde, das ihre Heimat geworden war. Sie besetzten ihr Land. Sie verhandelten.

Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Der Großgrundbesitzer Gallo gestand ihnen Raum zu, um ihre Hütten zu errichten, 4 km weg von der alten Siedlung und jeder Familie einen Hektar Land. Wer jedoch dieses Angebot nicht annehmen wollte, so lockte Gallo, der sollte einen lebenslang garantierten Arbeitsplatz mit gutem Einkommen und gratis Wohnung auf der Hacienda bekommen, zum Preis der Abhängigkeit vom Feudalherren.

Um etwas aus dem von der Baumwolle verdorbenen Boden herausholen zu können, müssen zuerst Bäume angepflanzt werden, die den heißen, gnadenlosen Wind abhalten. Die Leute von Esperanza kämpfen mit einem Virus in den Jungpflanzen und brauchen viel mehr Samen als eigentlich nötig, aber sie rackern und rackern mit ihren einfachen landwirtschaftlichen Geräten. Sie Leute zeigten uns ihren ganzen Stolz: ein kleiner "vivero", eine Baumschule. Auf einem Platz 5 x 5 m war mit Palmendächern etwas Schatten aufgebaut worden, darunter in Plastiksäckchen eine Reihe von Pflanzen. Nun wurde uns erklärt, welche Pflanze wozu gut ist und gegen welches Klima empfindlich, und welche Schädlinge sie besonders angreifen. Marta, die Koordinatorin des Dorfes, nahm einige von uns zur Seite und sagte: "Wißt ihr, wir sehen hier nicht nur das, was ist. Da habt ihr recht, das sieht alles recht traurig aus. Wir sehen, was einmal sein wird. Wir sehen die jungen Pflänzchen hier und wissen, daß es einmal Bäume sein werden, die unseren Kindern Schatten geben. Wir sehen nicht nur unsere Hütten, sondern auch, wie diese Gemeinschaft in Zukunft sein wird, und wir sind uns unserer Zukunft sicher, weil wir wissen, daß es Gottes Wille ist, denn ihm haben wir uns anvertraut."

Marta geht mit uns in den Kirchenraum, ein einfaches Haus. Marta ist die Sprecherin, von Beruf Lehrerin, aktives Mitglied der Kirchengemeinde. Sie studiert nebenbei Theologie, nicht weil sie Pfarrerin werden will, sondern weil sie mehr verstehen will von diesem Gott, der sie in ihre neue Zukunft geführt hat. Wir saßen in einem kleinen Raum, 8 Leute von uns, Vikarinnen und Vikare, und vielleicht 60 Mitglieder des Dorfes, alte Frauen, Junge, Männer, Kinder, alle waren sie gekommen, um uns zu sehen und die zu bestaunen, die sich für sie interessierten.

Es ist ein dumpfes Gefühl, mit diesen Menschen in der überfüllten, einrichtungslosen Kirche zu sitzen und dutzende Leute rufen von draußen: "Wir wollen auch hören, was ihr sprecht". Die Armen rückten uns sehr nahe - rein körperlich - und das war für viele von uns schwer auszuhalten, ein ungemütliches Gefühl. Die deutschen Gesichter waren bedrückt und angespannt. Als wir uns trauten, den anderen in die Augen zu sehen und mit ihnen zu sprechen begannen, ging es besser. Wir können nichts dafür, daß wir in Deutschland geboren sind, und sie sind uns auch gar nicht böse deswegen. Das ist unser Problem, und damit müssen wir zurechtkommen. Für die Menschen von Esperanza waren wir plötzlich die Hoffnungsträger. Wir interessierten uns für sie. Das war für sie sehr wichtig. Draußen vor der Hütte Gedrängel. Wir deutschen Vikare fragten; wie es denn sei mit der Gesundheitsversorgung. -Nun, einen Arzt gäbe es nicht, aber sie würden gut die Kräuter kennen. Geld für ein Krankenhaus habe man eh nicht. Wenn die Kräuter nicht helfen, dann hilft nur noch Gott. "Von was leben die Menschen hier denn?" - Nun, die meisten sind arbeitslos. Der Großgrundbesitzer beschäftigt sie nicht mehr. Sie gelten als Unruhestifter. "Und die Kinder?" -Nun, wir haben jetzt eine Schule gebaut, mit eigenen Mittel und unserer eigenen Arbeit. Die Lehrer kommen jetzt aus der Stadt und Marta, die hilft uns auch, aber die Kinder haben kein Geld, um sich Hefte zu kaufen und Stifte. Stühle gibt es auch keine in unserer Schule. Die Kinder sitzen auf dem Boden. "Und wie stellt ihr euch vor, wie es weitergehen soll mit euch?" -Nun, uns geht es doch gut hier. Bald wird unser Brunnen fertig sein, dann haben wir sogar Wasser. "Und die anderen Familien, die noch bei dem Großgrundbesitzer geblieben sind?" Nun, das sind noch einige, denen geht es schlecht, die wollen jetzt auch noch hierher kommen. Wir sind glücklich, daß wir hier sind. Wir werden den anderen helfen. Wir danken Gott, daß wir hier leben können. "Was?", sagte einer unserer Kollegen, "Ihr sitzt hier auf diesem Land, wo nichts wächst, ohne Wasser, ohne Strom, ohne Gesundheitsversorgung, ohne alles. Und ihr dankt Gott dafür und seid glücklich?" Ja, sagten die Menschen von "La Esperanza", Gott ist unsere Hoffnung. Er hat eine Zukunft für uns.
Da saßen wir, alles Studierte in Theologie und VikarInnen. Es war heiß, trocken, der Staub klebte auf der Haut, die Gegend sah trostlos aus, es wächst noch nichts dort in "La Esperanza". Am Fuße eines Vulkanes ein flaches Land ohne grün, alles braun vor Staub. Dennoch sieht man überall die Bemühungen der Menschen. Die Bäume sind schon gepflanzt. Gott ist unsere Hoffnung. Er sorgt für uns. Am Schluß des Besuches sagten viele NicaraguanerInnen: "Betet für uns und erzählt zuhause, wie es uns geht". Auf dem Rundgang hängen viele Kinder wie Kletten an uns. Es fällt schwer, zu gehen. Im Bus ist es still.

Zurück in Deutschland
Die Menschen, die Vegetation, die Hitze und der Staub, die Musik und Gerüche und Geräusche Nicaraguas haben ihre Spuren hinterlassen, das zeigt unsere Abschlußrunde am letzten Tag der Reise: "Nicaragua hat sich in mein Herz geschlichen", sagte einer von uns. Was war geschehen? Für uns Deutsche waren die Visionen und die Kraft der Menschen wichtig, denen wir begegnet sind und die uns Mut machten. Sie haben uns unerwarteterweise viel geschenkt und ihre Gebete und ihr Segen begleiten uns zurück nach Deutschland. Es war eine wichtige Erfahrung, zu spüren, daß wir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten: Eine friedliche Welt, in der alles Leben zu seinem Recht kommt.

Am Ende steht auch die Erkenntnis: Was in Nicaragua geschieht, das betrifft alle. Daher muß die Ökumene verstärkt in die theologische Ausbildung hinein. Wir zukünftige Pfarrerinnen und Pfarrer haben die Verantwortung, den Gemeinden zu erzählen von der Gefährdung unserer Welt, unseren Verstrickungen, der Hoffnung auf eine versöhnte Schöpfung, aufzurütteln und Veränderungen zu provozieren. Das mag idealistisch klingen, in Wirklichkeit ist es harter Realismus. Wir müssen überlegen: Wie muß Kirche und Theologie hier sein, damit sie etwas verändern kann an den ungerechten Strukturen der Politik und der Gesellschaft? Es wird immer wieder neu gefragt und entschieden werden müssen.
Eine besonders Stellung nahmen immer wieder die gemeinsamen Gottesdienste ein. Die kraftvollen, prophetischen, lebensnahen Predigten beeindruckten uns: Das wollen wir auch versuchen! Ein bißchen mehr Humor im Gottesdienst, mehr spontane und ehrliche Spiritualiät wünschen wir uns für zuhause. Wir lernten spanische Lieder und staunten über die uns fremde Liturgie. Wir wunderten uns über die Vorbehalte, mit der unsere eigene Liturgie aufgenommen wurde. Besonders intensiv haben wir die Abendmahlsfeiern erlebt. Es ist etwas Besonderes, wenn ein Mensch aus einem armen Land mir den Kelch reicht und zu mir sagt: "Für dich vergossen zur Vergebung der Sünden." Leib Christi und Neue Gemeinschaft waren plötzlich hautnah und konkret erlebbar, nicht mehr nur theologische Formeln.

In der Diskussion um die Struktur und Organisation von Kirche wurde uns deutlich vor Augen geführt, daß es in vielen Teilen der Welt anders verfaßte Kirchen als die unsere gibt. Knüpft man daran eine Hoffnung, so könnte sie heißen: Es gibt ein Leben jenseits der Volkskirche. In der Auseinandersetzung um die Zukunft unserer Kirche hier in Deutschland kann die Begegnung mit Menschen in anderen kirchlichen Strukturen die eigenen Phantasie bezüglich der Zukunftsgestaltung der Kirche anregen, falsche Ängste und Vorurteile abbauen und Mut machen, nach neuen Wegen zu suchen.


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