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Die Mission der Kirche

Die Mission der Kirche in der Neuen Gesellschaft.

von Uwe Martini


Will man die Brisanz erkennen, die in der Suche der evangelischen Kirchen nach ihrer spezifischen Aufgabe im revolutionären Prozeß liegt, so muß man die Geschichte dieser kirchlichen Gruppen näher betrachten. Der Protestantismus in Nicaragua war lange Zeit eng verbunden mit nordamerikanischen Wertvorstellungen und Ideologieversatzstücken. Antikommunismus, Antikatholizismus, Fundamentalismus und Individualismus waren Kennzeichen dieser Missionstheologie (besser gesagt: der religiösen Ideologie der Missionare), die für die Mehrheit der evangelischen Kirchen im Lande konstitutiv war.

Diese Missionstheologie war nicht in der Lage, eine authentische Theologie und Pastorale für Nicaragua zu schaffen. Das Vorbild der US-Missionare war erdrückend. Religion war für evangelische Christen im schlechten Wortsinne Flucht aus ihrer Wirklichkeit. Diese gesellschaftliche Absonderung trug ihnen oft das Stigma der Sekten ein. Ihre politischen Optionen gingen stets einher mit ihrer Unterstützung für den Liberalismus, der ihnen geschichtlich gegenüber der katholischen Kirche den Rücken gestärkt hatte. Aus dieser institutionell-politisch bedingten Haltung, die sich nicht an der realen gesellschaftlichen Situation orientierte, resultierte eine mehrheitliche Unterstützung der evangelischen Kirchen für den "liberalen" Somoza.

Diese Art Kirche zu sein ist in der Revolution immer weniger möglich. Die Bemühung der Sandinisten nach Einbeziehung möglichst vieler Bevölkerungskreise in kommunale und politische Selbstverwaltungsorganisationen, wie Stadtteilkommittees, Gewerkschaften etc., macht auch vor den evangelischen Christen nicht halt. Die Anstrengung der Regierung in der Alphabetisierungskampagne, den Gesundheitszentren und anderen Programmen, die zum ersten Mal in der Geschichte die ärmsten Sektoren der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellten und selber aktiv werden ließen, wurden in den evangelischen Kirchen, die sich in ihrer allergrößten Mehrheit aus der Landbevölkerung und den armen städtischen Gruppen zusammensetzen, als radikale Veränderung dessen wahrgenommen, was Welt, was Geschichte, was Gesellschaft vormals bedeutete. Der traditionelle Dualismus "gut-böse", "diesseits-jenseits", der als Erklärungsmuster der evangelischen Missiontheologie zugrunde lag, funktionierte nicht mehr, da die nicaraguanische Revolution nicht mehr ohne weiteres als "weltlich" im Sinne von "sündig" und "schlecht" abzuqualifizieren war. Die "Welt" erhielt Verheißungscharakter. Der Prozeß der sozialen Transformation wurde Teil eines eschatologischen Programmes, das zwar diesseits nicht zu seinem Ende gelangen würde, jedoch konkret sichtbar für alle bereits begonnen hat und die Mitarbeit aller dringend benötigt.
Das Reich Gottes ist zur zentralen Orientierung in der Erarbeitung einer evangelischen Handlungsperspektive geworden, die aufbauend auf das Wort Gottes im Evangelium, den protestantischen Traditionen verpflichtet und diese weiterentwickelnd, versucht, den Anforderungen der gesellschaftlichen Situation Nicaraguas an die Kirchen gerecht zu werden. Die Protestanten suchen ihren Platz im nationalen Projekt der neuen Gesellschaft. Das neue Gesellschaftmodell wird als noch nicht endgültig definiert erfahren. Der Gestaltungsprozeß ist noch offen. Die Kirchen sehen sich "auf dem Wege" und ihre Utopie ist das nicht vollendete und nicht zu vollendende Reich Gottes.

Die Revolution wird dadurch ernstgenommen in ihrer Verpflichtung dem Menschen und dem Leben gegenüber, ohne daß sie religiös-ideologisch überhöht und glorifiziert wird. Im zentralamerikanischen "Kairos"-Dokument lesen wir Ähnliches: "Auch wenn man sorgfältig unterscheiden muß zwischen weltlichem Fortschritt und dem Wachstum des Reiches Gottes, haben deshalb trotzdem sowohl der weltliche Fortschritt als auch der Fortschritt in den Befreiungsprozessen Anteil am Reich Gottes."

Die Funktion der Protestanten in der Gesellschaft wird nicht identisch sein können mit Theologie und Praxis der kirchlichen Basisgemeinden, die lange Zeit eine sehr enge Unterstützung der FSLN und des revolutionären Prozesses vorantrieben. Die evangelischen Kirchen suchen eine eigenständige Rolle, einen eigenständigen Beitrag, der dem Programm der Sandinisten gegenüber unverwechselbar aber notwendig komplementär ist. Es ist gleichzeitig die Suche nach der eigenen protestantischen Identität gegenüber den US-Muttermissionen.

Auch hier, in dieser Suche, im Versuch eine Aufgabenbestimmung durchzuführen, dessen was Mission heute in Nicaragua ausmacht, trifft man immer wieder auf das Thema Frieden. Wie sollte es auch anders sein? Frieden wird hier bereits sehr genau als ein Projekt beschrieben, das auf nationaler Würde und Souveränität aufbaut und auf sozialer Gerechtigkeit: ein Frieden der Völker, ein Absage an die pax romana. Ein weiteres Thema, das immer mehr an Bedeutung gewinnt, ist der Wiederaufbau. Nicaragua hatte und hat einen hohen Preis für seine Befreiung bezahlt. Das Land liegt wirtschaftlich am Boden. Die Wirtschaftskrise wird von der Regierung für den Erhalt der Revolution als weit bedrohlicher eingeschätzt als beispielsweise die militärische Aggression der USA. Drei Faktoren sind vorallem für die enorme Schädigung dieses kleinen Landes zu nennen: das Erdbeben, das 1972 die Hauptstadt Managua zerstörte und dessen Schäden noch immer nicht beseitigt sind, der langjährige US-Aggressionskrieg und der Hurrican "Joan", der im Oktober 1988 das Land heimsuchte und verwüstete. Durch den Friedensprozeß in Mittelamerika sind Hoffnungen auf einen Frieden geweckt worden. Jetzt wird Raum frei, den Wiederaufbau des Landes zumindest zu denken. Wiederaufbau wird dabei begriffen als Wiederherstellung des Zerstörten, Aufbau einer neuen Wirtschaft, einer neuen Gesellschaft und auch als geistige und geistliche Erneuerung des Volkes.

Wir dokumentieren Auszüge aus den Arbeitsprogrammen des CIEETS der Jahre 1987/88, in denen die inhaltlichen Referenzpunkte der neuen pastoralen Praxis erläutert werden. Danach ein Ausschnitt aus dem Hirtenbrief des CIEETS, in dem christliche Existenz heute in Nicaragua versucht wird zu definieren. Der Hirtenbrief ist das umfangreichste Dokument der letzten zehn Jahre, in dem von evangelischer Seite eine Gesamtanalyse der nicaraguanischen Gesellschaft vorgelegt wird. Er ist das Ergebnis einer kollektiven Arbeit der 40 Kirchen und evangelischen Gruppierungen (Jugendbewegung, Ärztegruppe, Pastorenkommittees), die gemeinsam die Generalversammlung des CIEETS bilden. Die Artikel von Benjamin Cortés und von Carlos Ruíz dem Rektor der Evangelischen Fakultät für theologische Studien (FEET) stammen aus der ersten Nummer der Zeitschrift "Mission Evangelica hoy" (MEH), herausgegeben vom Instituto de Evangelization y Transformacion Social (IETS) des CIEETS und versuchen sich den Aufgaben, Grundlagen und Herausforderungen kirchlicher Aktion zu nähern. MEH ist eine halbjährig erscheinende Zeitschrift, die sich Fragen der evangelischen Praxis in Nicaragua widmet.

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