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Nicaraguas Protestanten im Abwehrkampf
Uwe Martini
in "Evangelische Kommentare" 6/93
"Wie die Regierung mit uns umgeht, ist schlimm. Leider muß ich Dir berichten, daß man uns wieder diskriminiert. Jetzt gibt es dieses berüchtigte Kommuniqué des Finanzministeriums, nach dem die Regierung den evangelischen Kirchen und kirchlichen Organisationen Steuern abverlangt für alle ihre Aktivitäten, die nicht direkt mit dem Gottesdienst in Verbindung stehen. Und in diesem Kommuniqué behält sich die Regierung das Recht vor, zu definieren, was als Gottesdienst gilt und was nicht. Selbstverständlich betrifft dieses Kommuniqué die katholische Kirche nicht. Stell dir vor, an einigen Orten, zum Beispiel in El Jícaro, im Norden, da wo wir letztes Jahr noch den Workshop zu Exodus gemacht haben, gab es schon handgreifliche Konflikte. Evangelische Christen wurden überfallen. Man wollte verhindern, daß sie unter freiem Himmel einen Gottesdienst feiern. Die Polizei unterstützte dies. Es wird wieder wie früher." Diesen Brief schrieb mir Pablo, ein Freund und Kollege aus Nicaragua. Er ist Dozent an der Evangelischen Fakultät für Theologische Studien (FEET), einem wichtigen Ausbildungsinstitut der evangelischen Kirchen Nicaraguas. Der Brief stammt von Ende 1992. Die evangelischen Christen in Nicaragua sind eine gesellschaftliche Minderheit. Keiner weiß genau, wieviel Prozent der Bevölkerung sie stellen. Die Meldebehörden und Volkszählungen sind weitaus weniger effizient als in den Staaten des entwickelten Kapitalismus. Die Schätzungen schwanken zwischen 15 und 20 Prozent. Die Zeiten der gewalttätigen Diskriminierung der evangelsichen Gruppen sind noch nicht lange vorbei. Ich habe in den letzten Jahren in Nicaragua Leute getroffen, alte Menschen, die in den ersten Stunden der evangelischen Missionen mit dabei waren, bspw. aus den Asambleas de Dios, einer der großen Pfingstkirchen des Landes, die mir ihre Erlebnisse erzählen konnten, als der "katholische Mob", wie sie sagten, manchmal unter Führung katholischer Priester, die Fensterscheiben der templos, wie die Evangelischen ihre einfachen Gotteshäuser nennen, mit Steinen zerschlugen, als dort eingebrochen, Bibeln und Altargeräte gestohlen, die Evangélicos auf Weg zur Kirche überfallen und zusammengeschlagen wurden. Lange ist es noch nicht her, die Alten sind noch da, die diese Erinnerungen noch in ihren Herzen tragen. Rufen wir uns diese Erinnerungen einmal heran!
Es gab nur zwei Momente in der nicaraguanischen Geschichte, in denen sich die evangelischen Kirchen frei entwickeln konnten. Es sind zwei revolutionäre Momente. Die liberale Revolution unter der Regierung von José Santos Zelaya (1893-1909) und die sandinistische Revolution, die ihren Anfang nahm am 19. Juli 1979. Die Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1821 ließ die Allianz zwischen dem Staat und der römisch-katholischen Kirche unangetastet. Erst die Verfassung der Liberalen, im Jahre 1894, brachte die Religionsfreiheit und zum ersten Mal in der Geschichte die Trennung von Kirche und Staat. Zum ersten Mal konnten evangelische Christen auf öffentlichen Friedhöfen bestattet werden, die nun kommunales und nicht mehr kirchliches Eigentum waren. Zum ersten Mal konnten evangelische Christen heiraten, ohne zu konvertieren, denn es waren nicht mehr die Priester, sondern Standesbeamte, welche rechtskräftig die Ehe schlossen. Zum ersten Mal konnten evangelische Christen einen Ausweis und Reisepaß erhalten. Die Zeitzeugen leben noch. Die Erinnerungen auch.
Diese Phase der liberalen Revolution war eine Welle, die über ganz Lateinamerika hinwegging. Sie war auch gleichzeitig eine der Höhepunkte des politischen Engagements der evangelischen Christen in Nicaragua. Sie identifizierten sich mit dieser Regierung und fanden in der liberalen Partei einen natürlichen Verbündeten gegen Konservative und die katholische Kirchenhierarchie. Nach dem Sturz der liberalen Regierung und der Machtübernahme durch die Konservativen, versuchte die katholische Kirche erfolgreich ihre alte Hegemonie in der Gesellschaft wiederherzustellen. Führer der evangelischen Kirchen wurden festgenommen, in Gefängnissen festgesetzt oder erschossen. Die Gründe dafür waren sowohl religiöser, wie auch politischer Natur, da fast alle wichtigen Repräsentanten der evangelischen Kirchen auch gleichzeitig Funktionsträger der alten, liberalen Regierung gewesen waren. Die Zeiten nach dem Sturz Zelayas werden heute als das Martyrium der evangelischen Christen erinnert. Schüler und Studenten in den Schulen und Universitäten und die Arbeiter in den Betrieben wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den evangelischen Kirchen behindert und marginalisiert. Viele Gemeinden hörten auf zu existieren.
Der Widerstand war lebendig innerhalb des Protestantismus, wenn er auch lange brauchte, um sich effektiv in der Gesellschaft Gehör zu verschaffen. Sein wichtigster Ausdruck war das Komitee zur Verteidigung des Laientums (Comite pro Defensa del Laicismo), in den sechziger Jahren, das von 18 evangelischen Kirchen unterstützt wurde und damit gleichzeitig den ersten organisierten Ausdruck innerevangelischer Solidarität und Ökumene darstellt. Die katholische Kirche hatte eine Übereinkunft mit der Regierung getroffen, wonach die katholische, religiöse Erziehung in allen Schulen des Landes als Pflichtfach eingeführt wurde. Der Kampf um eine konfessionsneutrale Erziehung in den staatlichen Schulen dauerte 10 Jahre, ohne Erfolg. Die katholische Erziehungspolitik der Regierung führte daher unter anderem auch zur Gründung der baptistischen Schulen, die allerdings nur den evangelischen Christen in den Städten offen standen. Erst mit der sandinistischen Revolution erfüllten sich diese Forderungen der evangelischen Christen, eine konfessionsneutrale Erziehung wurde zur Selbstverständlichkeit.
Der Sandinismus hat radikal Ernst gemacht mit der Gleichbehandlung der verschiedenen Kirchen. Der ideologische Pluralismus, eines der programmatischen Ziele der sandinistischen Revolution für die nicaraguanische Gesellschaft, verstand die religiöse Neutralität des Staates als eine unabdingbare Voraussetzung seiner Verwirklichung. Außerdem war für den sandinistischen Staat der Protestantimus ein natürlicher Verbündeter gegenüber einer antirevolutionär eingestellten katholischen Kirchenführung. Die Evangelischen wurden zum ersten Mal wirklich ernst genommen. Sie fühlten sich auch als Religionsgemeinschaft zum ersten Mal wirklich Teil der nicaraguanischen Nation und versuchten ihren Beitrag zur Schaffung des neuen Nationalstaates zu bestimmen. Trotz aller Konflikte und Kritik wird auch von konservativer evangelischer Seite anerkannt: "Die Wirklichkeit ist, daß nach 10 Jahren Revolution die protestantischen Kirchen ihre besten Momente in der Geschichte erleben" (XILOTL, 3/89, Juli 1989). Dies zeigt sich nicht nur an dem überraschend starken zahlenmäßigen Anwachsen der Kirchen in den 10 Jahren der Revolution, sondern auch an der direkten Beteiligung evangelischer Pastoren an der politischen Arbeit. Ein Schlaglicht: 1984 waren zwei Pastoren als gewählte Vertreter auf den Listen der sandinistischen Partei in das Parlament gewählt worden. Bei den Wahlen 1990 beteiligten sich landesweit über 40 Pastoren auf den sandinistischen Listen an den Wahlen.
Mit dem Ende der sandinistischen Regierung und der Machtübernahme durch die konservative Parteienkoalition UNO, unter Führung der derzeitigen Präsidentin des Landes Violeta Barrios de Chamorro fühlen sich viele evangelische Christen an die Zeiten nach dem Ende der liberalen Revolution erinnert. Der Kardinal der katholischen Kirche Nicaraguas und unbestrittener Kirchenfürst des Landes, Miguel Obando y Bravo, war im Kampf gegen die Sandinisten engster Verbündeter der heutigen Präsidentin und deren politischer Berater. Die Bischofskonferenz des Landes war harter Opponent der sandinistischen Regierung, die auch vor einer direkten Einmischung in den Wahlkampf nicht zurückscheute. Die katholische Kirche fühlt sich als Wahlgewinnerin. Die Rechnung für ihre Bemühungen nach gewonnener Wahl wird der Regierung nun vorgelegt.
Die erste Maßnahme, noch harmlos, erzeugte bereits eine gewisse Irritation. Unmittelbar nach der Regierungsübernahme 1990 wurde live und kostenlos in den regierungsamtlichen Fernsehsendern (damals noch den einzigen des Landes, die privaten Kanäle wurde erst in den beiden folgenden Jahren eingerichtet) die Sonntagsmorgenmesse von Kardinal Obando y Bravo übertragen. Ein evangelisches Fernsehprogramm mußte privat finanziert werden und wurde schließlich von der Fernsehgesellschaft geschlossen.
Den Schulbüchern des 3. und 4. Schuljahres wird der katholische Katechismus beigelegt. Der Erziehungsminister Humberto Belli, Mitglied einer militant katholischen Gruppierung "Ciudad de Dios" (Stadt Gottes), läßt als eine seiner ersten Amtshandlungen die bisher im Gebrauch befindlichen Schulbücher einstampfen und erwirbt im Ausland im Schnellverfahren neue, der konservativen Ideologie seiner Regierung angepaßtere Lehrbücher. Diese sind im Bereich Gesellschaftswissenschaften und Religion nicht konfessionsneutral sind, sondern repräsentieren die katholische Lehre. Der Vorwand ist eine vermeintliche "Entpolitisierung" des Unterrichts nach den Jahren der Revolution. Widerstand innerhalb der evangelischen Kirchen beginnt sich regen.
Der katholischen Kirche werden Ländereien und Gebäude geschenkt, die in staatlichem Besitz sind. Der Grund und Boden, auf dem derzeit im verarmten Managua die neue Kathedrale gebaut wird, wurde der katholischen Kirche von der Regierung übereignet. Es handelt sich um Ländereien im geplanten neuen Stadtzentrum der Hauptstadt mit entsprechendem Grundstückswert. Die Gebäude, in der die neue katholische Universität arbeitet, eine der neuen konservativen Eliteuniversitäten in Nicaragua, wurde der katholischen Kirche vom Staat übergeben, alles kostenlos. Der Bau der Kathedrale erhält zusätzlich staatliche Zuschüsse, finanziert aus Steuereinnahmen. Außerdem widmet die staatliche Lotterie Teile ihrer Einkünfte dem Bau dieses Prestigeobjektes.
Am 11.11.1992 wird das Erziehungsprogramm "Filemón Rivera" geschlossen. Im entsprechenden Kommuniqué des Erziehungsministeriums heißt es lapidar: "Das Programm hat aufgehört eine nationale Notwendigkeit zu sein. Die Teilnehmer dieses Programmes können regulär die Morgens- oder Abendkurse der staatlichen Gymnasien besuchen und somit eine solide und bessere Ausbildung erhalten." Das Filemón Rivera war eine Einrichtung der sandinistischen Regierung, die es besonders Arbeitern ermöglichte, in Abendkursen das Abitur nachzuholen. Eine gesellschaftliche Organisation mußte sich anbieten, die Kurse organisatorisch zu betreuen, das Ministerium stellte die Lehrer. Diese Maßnahme trifft ganz allgemein eines der Ziele sandinistischer Erziehungspolitik, gerade den Minderprivilegierten Zugang zur höheren akademischen Ausbildung zu ermöglichen. Diese Maßnahme trifft insbesondere die evangelischen Kirchen, da diese in verstärktem Maße für das Filemón Rivera Counterpart des Erziehungsministerium waren, um besonders für ihre Pastoren aber auch ihre Mitglieder die Möglichkeit zu schaffen, das Abitur zu erlangen (und somit auch die Zulassung zum Theologiestudium).
Obando y Bravo hat solcherlei Maßnahmen bereits 1991 bei einem Besuch im Vatikan programmatisch verkündet: Die evangelischen Sekten (wie er sich auszudrücken pflegt) werden zu stark. Sie sind kein vorübergehendes Phänomen mehr, sondern eine Realität. Sie besitzen eine eigene Infrastruktur, haben eine große und aktive Mitgliederschaft und immer mehr nationale Pastoren und Führungspersönlichkeiten. Obando redete gegen einige Regierungen in Lateinamerika, ohne sie namentlich zu nennen, die sich immer mehr auf evangelische Gruppen stützen, um ihre eigene wirtschaftliche und politische Macht abzusichern. Der nicaraguanische Kardinal sieht in dem wachsenden Protestantismus eine Gefahr für die Vormachtstellung der katholischen Kirche auf dem einstmals "katholischen" Kontinent Lateinamerika. In seinem eigenen Land will der Kardinal hier gegensteuern. Diesen Versuch sehen wir heute in Nicaragua Wirklichkeit werden. Die spanische Zeitschrift "El País" redet bereits von einem neuen Konkordat (6.12.92).
Der Versuch der katholischen Kirche zur Wiedererlangung politischer Macht an der Seite der konservativen Regierung hat zumindest in den ländlichen Teilen Nicaraguas eine Stimmung geschaffen, die es erneut möglich macht, evangelische Aktivitäten gewaltsam zu unterbinden. In den Regionen I und VI, Matagalpa und Estelí ist es mehrmals zu Überfällen auf Gottesdienste gekommen. Angeführt waren die Aktionen von nicht-nicaraguanischen, katholischen Priestern. Die Polizei hat (wir würden sagen nach "Rostocker Art") mitgeholfen.
Derzeit letzter Schauplatz dieser Auseinandersetzung ist die Steuerfrage. Und was die religiöse Erziehung in den Sechzigern, scheint der Fiskus in den späten Neunzigern zu sein. Die evangelischen Kirchen schließen sich zusammen, um sich gegenüber der gemeinsamen Front Regierung-Katholische Kirchenhierarchie zu verteidigen. Um was geht es?
Am 14.8.1992 verkündete das Finanzministerium das Dekret 22-92. Darin wird vorgeschrieben, daß alle evangelischen Kirchen und kirchlichen Gruppen 15% Steuern auf alle Tätigkeiten zu entrichten haben, die nicht unmittelbar mit der Ausübung des Gottesdienstes in Verbindung stehen. Alle evangelischen Kirchen müssen jährlich gegenüber dem Finanzministerium Rechenschaft ablegen über die Bewegungen von Spendengeldern, Änderungen in ihren Satzungen und Ordnungen, Rechnungsprüfungsbericht, Änderungen in der Mitgliederschaft, Anzahl der Kirchen und Gebäude unter kirchlicher Nutzung, sowie ein aktualisiertes Inventar aller Güter.
Der Verkauf jeder Bibel wurde nun mit 15% Steuern belegt. (Die Bibelgesellschaft konnte mittlerweile erreichen, daß dies auf 6% gesenkt wurde.) In einigen Dörfern, so zum Beispiel in Nandasmo in der 4. Region wurden Steuern erhoben auf eine Evangelisationskampagne. Für ihre templos, oft gar ärmliche Häuser, die zu Gottesdienstzwecken umgebaut wurden, müssen die Kirchen Steuern zahlen. Für ihre Erziehungsprogramme, Nachbarschaftshilfen, für ihr diakonisches Arbeiten müssen die Kirchen Steuern zahlen. Und es soll deutlich gesagt werden: Diese Steuern sind nicht bezahlbar. Die evangelischen Kirchen Nicaraguas sind im Wortsinne "Kirche der Armen" und arme Kirchen gleichzeitig. Der Arbeitslohn eines Pfarrers besteht aus dem Zehnten, gegeben von Menschen, die selber kaum das Nötigste zum Essen haben. Für die katholische Kirche hat das Dekret selbstverständlich keine Wirkung.
Auf den Protest der Kirchen antwortete die Regierung mit einer Erklärung. In dieser heißt es, die Regierung könne nicht ausschließen, "daß die Kirchen illegale Aktivitäten ausüben könnten, um sich wirtschaftliche Vorteile und Gewinne zu verschaffen". Da eine solche Äußerung direkt von einer Regierungsstelle kommt, ist es fast einer Existenzbedrohung gleichzusetzen. In Nicaragua haben die evangelischen Kirchen, in Ermangelung einer auf einen erstarkenden Protestantismus zugeschnittenen Rechtslage, den Status gemeinnütziger Organisationen und sind nur als solche legale Körperschaften, die per Definition ohne eigenes Profitinteresse arbeiten und wirtschaften.
Das Dekret kam nicht völlig überraschend. Bereits vor seiner Verabschiedung hat es für evangelische Kirchen bei den Zollbehörden erhebliche Schwierigkeiten gegeben. Tausende von Dollars in Form von Medikamenten und Nahrungsmittel sind verloren gegangen, aufgrund der bürokratischen Hürden der mit der neuen Regierung verbundenen Zollverantwortlichen.
Am 12.11.1992 wurden die Verhandlungen, die von einer Kommission der evangelischen Kirchen mit der Regierung geführt wurden, einseitig seitens der Kirchen abgebrochen. Daraufhin wurde von mehr als 10 Kirchen vor dem Obersten Gerichtshof eine Verfassungsklage eingereicht. In einer Verlautbarung der Kirchen steht: "Wir fühlen uns als evangelischen Kirchen und kirchlichen Institutionen Nicaraguas angegriffen und sind der Meinung, daß die Regierung gegen die Freiheit der religiösen Glaubensausübung verstößt" (Barricada, 26.11.92). Der Fall ist bis heute noch nicht entschieden. Das Dekret ist weiterhin in Kraft.
Der "Evangelische Pressedienst" Nicaraguas bezieht Position in seinem Editorial vom Februar 1993: "Die Katholisierung der Erziehung, Kultur und der Organisationen des Staates zugunsten der katholischen Kirchen ist für uns nicht verhandelbar. Der Aufbau eines in religiösen Fragen tatsächlich neutralen Staates stellt eine nicht mehr aufschiebbare Aufgabe dar, um eine integrale Entwicklung unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Nur ein religiös neutraler Staat wird einen Rückfall ins Mittelalter und einen kulturellen Abstieg des Landes verhindern. Nur ein religiös neutraler Staat ist in der Lage, ein nationales Projekt zu koordinieren und anzuleiten, denn unser Land hat nur eine Zukunft als multiideologische, multiethnische, multikulturelle und pluralistische Gesellschaft" (SEP 2/93). Für dieses nationale Projekt stehen die evangelischen Kirchen ein.
Der Widerstand gegenüber den neuen katholischen Hegemoniebestrebungen ist dazu Vorbedingung. Es beginnt wieder ein Kampf im nicaraguanischen Protestantismus, um als gesellschaftliche Minderheit seine Rechte und seine legitimen Platz in der Gesellschaft zu verteidigen. Die evangelischen Christen schließen sich wieder zusammen, nicht nur wie in Zeiten der sandinistischen Revolution zu Zwecken der gemeinsamen ökumenischen und profetischen Aktion, wie bspw. Nachtwachen für den Frieden, Friedensmärsche oder Abrüstungskommissionen. Die evangelischen Christen suchen den politischen Zusammenschluß. Die eher konservativ ausgerichteten Kreise gründeten 1992 die Partei der Nationalen Gerechtigkeit. Die ehemals mit den Sandinisten verbundenen evangelischen Christen fanden sich in der Evangelischen Revolutionären Bewegung zusammen, die sich im November 1992 der Öffentlichkeit präsentierte.
Benjamín Cortés, evangelischer Pfarrer der Iglesia de Cristo und Leiter eines ökumenischen Studienzentrums (CIEETS) schreibt in einem Brief vom Dezember vergangenen Jahres: "Wir als evangelische Christen werden heute vom bürgerlichen Staat gewaltsam aus der Gesellschaft ausgeschlossen und an den Rand gedrängt. Wir bewegen uns hin auf eine Kirche der Ausgeschlossenen. Wir sind eine Gemeinschaft, die das heilige Gesetz des Systems verletzt. Dieses System zwingt uns nicht nur eine unbezahlbare und unannehmbare Steuerpolitik auf, sie zwingt uns eine Politik des Hungers auf, die unser Volk in den Tod führen wird." Auf einer Veranstaltung im Dekanat Ingelheim im Januar 1993 fügte er hinzu: "Es ist auf der anderen Seite ein Privileg, denn als Ausgeschlossene sind wir mitten bei unseren Leuten und auf der Seite der großen Mehrheiten der lateinamerikanischen Völker."
Veröffentlicht in: Evangelische Kommentare 6.93