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... oder vom Ankommen im neuen Deutschland / 1992
Ein Blick von außen
Von Uwe Martini
Veröffentlicht in verschiedenen Zeitschriften, u.a. Junge Kirche, Reformierte Kirchenzeitung... Auf der Autobahn wird links gefahren. Die Kolonne auf der Überholspur fährt dabei fast langsamer als die rechte. Keiner schert hinter dem überholten Laster wieder ein. Früher war das anders, oder? Liegt es daran, daß jetzt alle Welt größere und schnellere Wagen fährt? Beobachtungen und Fragen eines, der nach acht Jahren Lateinamerika in die Bundesrepublik zurückkehrt, die jetzt nur noch Deutschland heißt. Acht Jahre haben wir in Nicaragua gelebt. Zuletzt mit einem Entwicklungshelfervertrag bei "Dienste in Übersee". Jetzt sind wir zurückgekommen und schauen auf unser Land. Was sind acht Jahre? Keine AIDS-Debatte, kein Tschernobyl, keine Wiedervereinigung. Die AIDS Fälle sind in Mittelamerika nur in Honduras auf eine Zahl angewachsen, die Aufmerksamkeit erregt. US-Basen machten die Prostitution zu einen der gewinnbringendsten Gewerbezweigen in den umliegenden Regionen und führten zu dem Import des AIDS Virus. In Nicaragua, wo wir in der Stadt León lebten und arbeiteten gibt es weder ernstzunehmende Zahlen, noch werden ernstzunehmende Testreihen durchgeführt.
Wenn wir von der AIDS-Debatte nur die Artikel aus der bundesdeutschen Presse kennenlernten, die Besucher mitgebracht oder liegengelassen hatten, so erhielten wir von Tschernobyl immerhin Kartoffel und Marmelade, die nach der Katastrophe zu einem Spottpreis an die armen Länder abgegeben wurde. Von der Wiedervereinigung erleben wir nun die Konsequenzen.
Das Land hat sich verändert. Unmerklich. Es ist wie ein alter Freund, den du lange nicht gesehen hast. Du triffst dich mit ihm und redest und lachst und alles scheint wie früher. Doch plötzlich merkst du daß die alte Vertrautheit fehlt und die Freundlichkeit verwandelt sich in schrille Falschheit.
Ankommen in Deutschland heißt auch ankommen auf den Behörden. Neu für uns ist, wir angelogen werden. Entweder haben wir dies früher nie registriert, oder die Beamten haben sich wirklich erst in den letzten Jahren angewöhnt, den Menschen, die zu ihnen kommen, nicht die Wahrheit zu sagen. "Selbstverständlich, Ihr Antrag ist bereits bearbeitet, übermorgen wird das Telefon installiert". Eine Woche später stellt sich heraus, daß der Antrag noch nicht einmal bis zu den entsprechenden Schreibtischen vorgedrungen war. Und so ergeht es uns auf dem Arbeitsamt, bei der Krankenkasse, aber auch bei Privatfirmen, wie bspw. der Spedition, die unser Gepäck zu befördern hatte, so daß langsam die Erkenntnis wächst: Im neuen Deutschland wirst du angeschissen.
Hat man lange Jahre in einem fremden Land gelebt, weiß man wie wichtig die Haltung ist, die einem als Ausländer von der Bevölkerung des Gastlandes entgegengebracht wird. In Nicaragua wurden wir aufgenommen wie Freunde. Nicht wie Gäste, sondern wie einer unter anderen. Und das will einiges heißen, bei dem so legitimen Nationalgefühl der armen Völker Mittelamerikas.
Wir wurden natürlich als Ausländer auch in Frage gestellt, am Arbeitsplatz wie im Privatleben. Es kam vor, daß in Auseinandersetzungen zu dem Argument des "Du-Bist-Ja-Nicht-Von-Hier" gegriffen wurde, um einer wirklichen Auseinandersetzung zu entgehen. Dennoch wurde unser Zusammenleben mit ihnen von vielen Nicaraguanern als Bereicherung begriffen. Und das ohne von multikultureller Gesellschaft zu reden. Wenn dies nicht so gewesen wäre, hätten wir nicht so lange dort leben wollen.
Zurück in Deutschland mitanzusehen, wie Landsleute Ausländer vertreiben wollen, und dabei keine Rücksicht auf deren Leib und Seele nehmen, Ausländer als minderwertige Menschen verstehen und verachten, ist nicht einfach Teil eines Kulturschocks der Wiederkehr.
Auch in Nicaragua erlebten wir Denkweisen und Verhaltensmuster, wo wir sagen mußten: Nicht mit uns. Wenn die Verteidigung nationaler Interessen zu chauvinistischem Nationalismus wurde, oder wenn es um den Machismo ging, oder um eine ungebrochene Technikgläubigkeit. Es gibt andere Beispiele. Dennoch war es uns möglich, damit umzugehen. Denn es war niemals "mein Ding". Es war Sache der Nicaraguaner, Teil ihrer Kultur und Geschichte. Zurück in Deutschland finde ich in den Brandbomben gegen Asylanten eine Kultur und Geschichte, die auch die meine ist und die mir Distanz nicht erlaubt, solange ich nicht auf Distanz gehe und das Land wieder verlasse, es als "Nicht mein-Land" erkläre.
Ganz langsam lerne ich zu verstehen, wie sich dieses Deutsch-Land im Verhältnis zu anderen Ländern sieht. Ich suche zur vollen Stunde egal welchen Radiosender. Hauptteil der Nachrichten sind Mitteilungen über Hilfsgüter, Hilfssendungen, Hilfsmaßnahmen der reichen für die armen Länder. Nein, es ist noch spezieller: Die Nachrichten erzählen uns, warum die Hilfsgüter nicht ankommen und die Hilfsmaßnahmen nicht greifen. Meistens weil in den Krisengebieten nicht die nötige Sicherheit herrscht, Rebellen unterschiedlicher ideologischer Provenienz die Transporte überfallen, Korruption die Verteilung unterbindet, und weiß ich was noch. Schlußfolgerung: "Die wollen unser Geld gar nicht haben." Und Schlußfolgerung Nummer zwei: "Wir sind gute Reiche. Wir wollen ja helfen." Hier kann gar kein Denken entstehen, in dem das eigenen Land gleichberechtigt neben anderen Kulturen sich einreiht. Deutschland ist immer Subjekt. Die Anderen erleiden im Passiv die deutsche Politik, sei diese im Bereich des Militärischen oder des Humanitären angesiedelt. Das einzige was den armen Ländern zugestanden wird, ist ein passives Verb: empfangen. Herrschaftsdenken wird heute über Almosen organisiert.
Mehr als Hilfsgüter sind in den Nachrichten auch fast schon nicht mehr drin. Über die Hintergründe der Konflikte, die zugrunde liegenden Logiken und mögliche Auswege wird nicht mehr berichtet. Sicherlich, der Informationsmarkt ist groß. Jeder, der will, findet spezielle Sendungen, die ihm das liefern, was er braucht. Zum Teil kann er sich dabei sogar den passenden Weltanschauungsfilter aussuchen. Aber wer sucht schon? Der Nachrichtenkonsument wird abgespeist mit einer Weltsicht, die außerhalb der Grenzen Deutschlands nur das wilde Chaos wüten sieht, und das ohne Sinn und Verstand.
Die Menschen sind dabei aggressiver geworden, oder ist auch dies nur eine Wahrnehmung des längst Bekanntem, neu geworden durch die Abwesenheit? Es ist eine hilflose Aggressivität, die des kleinen Mannes.
So lautet mein vorläufiges Fazit denn: Die bundesrepublikanische Wirklichkeit von heute zeigt eine Gesellschaft, in der ehemals anerkannte Spielregeln nicht mehr die gewohnte Gültigkeit beanspruchen können. Es ist Glaube veloren gegangen. Wo vormals der Bundesbürger in die Funktionalität des Systems vertraute, und jeder damit rechnen konnte, den Spielregeln entsprechend gerecht behandelt zu werden, agieren die Menschen heute wie ein vom Schiedsrichter im Stich gelassenes Football-Team. Die Menschen werden agressiv. Instinktiv. Es liegt etwas in der Luft. Es ist nicht faßbar, aber irgendetwas ist falsch. Sind die Spielregeln nicht mehr gültig, tritt die Selbstjustiz auf den Plan. Korrupte Politiker, heute eher die Regel, waren noch in den 70ern nicht einmal als Ausnahme denkbar, auch wenn sie selbstverständlich existierten. Die Unschuld ist weg. Heute bräuchte es mehr als einen Guillaume, um den Kanzler zu stürzen.
Die Desillusionierung hat nicht zu größerer Weisheit geführt. Sie hat die latente Gewalt des Systems dem Individuum aufgebürdet. Und da kommt sie wieder raus, sei es auf der Autobahn mithilfe des Gaspedals oder mit dem Molotov-Cocktail vor dem Asylantenheim.
Hier bleibe ich nicht. Hier bleibe ich nicht?