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Pastorale Praxis

Eine pastorale Praxis im Dienste des Reiches Gottes

Von Carlos Ruíz

Ausgehend von der lateinamerikanischen Theologie hat das Thema "Reich Gottes" in Lateinamerika in den letzten Jahren einen großen Aufschwung erlebt, sowohl im katholischen als auch im evangelischen Bereich.
Meine Absicht mit diesem Artikel ist nicht, den Begriff des Reiches Gottes zu diskutieren. Vielmehr möchte ich versuchen einige Linien zu zeichnen, für die pastorale Praxis in dem Kontext unserer lateinamerikanischen Gesellschaft.

Jedoch halte ich ist es für notwendig, klar zu definieren, an was ich denke, wenn ich von der pastoralen Praxis rede und vom Reich Gottes.

1. Über die Begriffe: Pastorale Praxis - Reich Gottes.
In der Theologie sind beide Begriffe, sowohl pastorale Praxis als auch Reich Gottes, heute sehr zweideutig und stark umstritten.

a) Pastorale Praxis.
Der Hirtenbrief des CIEETS von Juni 1987 beinhaltet eine Vision des dynamischen und orientierungsgebenden Begriffs der pastoralen Praxis:
"Wenn wir von pastoraler Praxis reden, meinen wir den Sinn und die Aktion der kirchlichen Mission, die sich an Frauen und Männer richtet, in ihrer Totalität, hier und heute. ...

Aus diesem Grunde reden wir von pastoraler Praxis als wiederaufbauendes und befreiendes Handeln von Frauen und Männern, um die Zukunft in einer Gesellschaft zu leben, die erleuchtet ist von der Gerechtigkeit, dem biblischen Shalom und der völligen Verwirklichung. ...

Nur in dem Maße, in dem unsere Verpflichtung gegenüber dem Gott der Liebe uns immer mehr mit unserem Nächsten verpflichtet, werden wir Christen verstehen, was pastorale Praxis bedeutet. Eine Pastoral beinhaltet eine Theorie, eine Vision und eine Praxis. Deshalb ist Pastoral kein enges Paradigma, vielmehr fordert sie uns zu einem dynamischen Handeln auf. Jedesmal, wenn wir qualitativ in unserer evangelischen Praxis vorankommen, verlangt unsere Definition von pastoraler Praxis eine neue Formulierung."
Dies Verständnis von pastoraler Praxis hat seinen Grund im Sinn und der Aktion der Mission. Die pastorale Dimension umfaßt auf der einen Seite, die Hoffnung auf die Zukunft und ein Nachdenken über die Gegenwart (eine Eschatologie, die vom Gegenwärtigen ausgeht), auf der anderen Seite wird die pastorale Praxis verwirklicht im Hinblick auf das Individuum als solches und im Hinblick auf das Volk als Ganzes. Es ist klar, daß die pastorale Praxis sich nicht auf eine eingeschränkte Gemeinschaft bezieht, sondern die größte Gruppe von Frauen und Männern im Blick hat: die in ihrem geschichtlichen Kontext eingebettete Gesellschaft.

b) Reich Gottes.
Bis in die Zeit Samuels hinein gab es im Alten Israel keinen König. Erst mit Saul entstand der neue Typus einer monarchistischen Regierung. Nach Saul, mit David und vor allen Dingen mit Salomon, wurde die Monarchie gestärkt, bis später unter der Regierung von Rehabeam das Reich Israel geteilt wurde (1. Könige 14,21-23).

Es scheint, daß die biblischen Bücher Josua und Könige eine harte Kritik an der Monarchie beinhalten. Nur wenige der Könige werden im Alten Testament als Könige gelobt, die dem Herrn gefielen. (2.Könige 23,25). Im Buch Samuel im achten Kapitel finden wir eine Rede über die Bedeutung des Königtums für Israel: "Eure Söhne wird er nehmen, daß er sie für seinen Wagen und seine Rosse verwende, daß sie vor seinem Wagen herlaufen, daß er sie zu seinen Obersten über Tausend und zu Obersten über Fünfzig mache, daß sie seine Äcker pflügen und seine Ernte schneiden und daß sie seine Kriegswaffen und seine Wagengeräte machen. Eure Töchter wird er nehmen, daß sie ihm Salben mischen, ihm kochen und backen. Eure besten Felder, Weinberge und Ölbäume wird er nehmen und seinen Dienern geben. Von euren Saaten und Weinbergen wird er den Zehnten nehmen und seinen Kämmerern und Dienern geben. Eure Knechte und Mägde und eure schönsten Rinder und eure Esel wird er nehmen und für seine Hofhaltung verwenden. Von euren Schafen wird er den Zehnten nehmen und ihr selbst müt seine Sklaven sein. Wenn ihr dann wegen eures Königs, den ihr euch erwählt habt, schreit, so wird der Herr euch alsdann nicht antworten." (1. Samuel 8,18). Auf Grund der Unterdrückung, welche die Könige dem Volk aufzwingen, wird das Volk verzweifelt zu Jahwe beten, um vom König befreit zu werden: "wenn ihr dann schreit". Der Schrei zu Jahwe drückt die Verzweiflung des Volkes in der Unterdrückung aus.

Wegen der durch die monarchischen Regierungen verursachten Enttäuschung entstand in Israel sehr schnell eine Idealvorstellung, wie ein wirklicher Regierender zu sein habe. Zum Beispiel der Psalm 72 enthält ein Klage, die die verschiedenen Elemente auflistet, die in einer wahrhaften Regierung präsent sein müssen: a) Die Gerechtigkeit Gottes.b) Die Fähigkeit, gerecht zu richten.c) Der Frieden des Volkes auf Grund der Gerechtigkeit.d) Heil der Notleidenden und die Vernichtung des Unterdrückers.e) Mitgefühl für die Armen.f) Schutz der Armen vor Betrug und Gewalt.g) Gerechte Wertschätzung des Lebens der Armen.Es gibt keinen Zweifel darüber, daß die Schlußfolgerung, die die Israeliten mit der Zeit zogen, dahin ging, daß Jahwe selber regieren sollte. Auf diese Art und Weise nähme das Heil und die Rettung eine reale Dimension in dem Volk selber an. Von hier aus müssen wir die Grundlage für das Erstarken der Hoffnung auf das Reich Gottes verstehen, die durch die römische Präsenz in den Zeiten Jesus sich enorm verstärkte. Das Reich Gottes schließt jede Art anderer Regierung aus. Sie schloß de facto auch das imperiale Regime Roms aus. Die Erwartung des Reiches in Gestalt eines Messias, wurde nicht nur allein von Jesus verkündet, sondern auch von Guerillagruppen, wie z.B. den Zeloten, die versuchten, durch antiimperialistische Gewalt die Hand Gottes herbeizuzwingen.

Die Verkündigung des Reiches Gottes war zentrales Element in der Botschaft Jesus, soda6szlig; einige Autoren geglaubt haben, diesen mit den Zeloten oder zumindest mit einem ihrer Allierten zu identifizieren. Diese These wurde z.B. von Oscar Cullmnan diskutiert in seinem Buch "Jesus und die Revolutionäre seiner Zeit".

Cullmann erkennt auf der einen Seite an, da6szlig; Jesus zum Tode verurteilt wurde wie ein Zelot, wahrscheinlich weil Pilatus seine Absichten miverstanden hatte. Auf der anderen Seite geht auch Cullmann davon aus, da6szlig; Jesus ein Sympathisant dieser Bewegung war und daß er die Zeloten aus diesem Grunde nicht offen angegriffen hatte, da eventuell die Versuchung, auf die sich Lukas bezieht, mit dem permanenten Wunsch Jesu zu tun hatte, sich dieser Bewegung anzuschließen.

Meiner Meinung nach ist das stärkste Argument, da6szlig; Cullmann verwendet, um die These des militanten Zelotismus oder das Verbundensein Jesu mit dieser subversiven Gruppe zurückzuweisen, daß Jesus den Vorschlag der Menge zurückweist, sich selber zum Messias zu erklären und die Antwort die Jesus Pilatus gibt: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt".

Aber das Wichtigste an all diesem ist, daß Jesus teilhatte an einer gemeinsamen Hoffnung mit anderen Gruppen seiner Zeit, die, im Falle der Zeloten, subversiv tätig waren. Obwohl wir nicht über ein Programm des Zelotismus verfügen, bestätigen einige Autoren, da6szlig; die Unterschiede zwischen der Verkündigung des Reiches durch Jesus und dem Zelotismus darauf beruhten, da&szlg; Jesus die zeitliche Nähe des Heils und die Nähe des Endes aller Zeiten prophezeite.

Wie können wir also das Reich Gottes verstehen? Gemäß der Geschichte und der Predigt Jesu muß das Reich Gottes verstanden werden als ein Heilszustand, in der Gerechtigkeit und Frieden grundlegende Elemente darstellen. Das Reich Gottes ist vorstellbar als Schutz der Armen und Niederlage der Unterdrücker und der Mächtigen. Das Reich Gottes muß verstanden werden vom "Vater Unser" her, wo es parallel gesetzt wird zum Willen Gottes. Jene die dieses Reich herbeiwünschen, leben in gemeinschaftlichem Geist und teilen die Bitten, um ihre Bedürfnisse zu heilen: Unser täglich Brot gib uns heute (Matthäus 6,9-13).

2. Pastorale Praxis im Dienste des Reiches Gottes.
Die pastorale Aktion muß vor allen Dingen orientiert sein am Reich Gottes als Ziel, als Erlebnis und als Inspiration, d.h. als individuelle Hoffnung und als Hoffnung für die Gesellschaft.

Die pastorale Praxis im Dienste des Reiches Gottes ist ein Prozeß der Umkehr, der vor allen Dingen zwei Aspekte erfüllt. Ein praktischer, der etwas mit dem Machen zu tun hat, und einer der etwas zu tun hat mit unsere Art und Weise die Welt, den Glauben und die Zukunft zu verstehen.

Es geht um ein immer wieder neues Verstehen dessen, was sich vor unseren Augen abspielt und auch was unseren Augen noch verborgen bleibt. Die historischen Umstände, die Mächte, die Organisationsformen und all dies, was Teil dieser Welt bildet, muß von uns verstanden und beurteilt werden können. Diese Art zu verstehen muß ein Prozeß sein, weil die Welt selber in einem Prozeß begriffen ist.

Auerdem muß unser Machen und Tun den Herausforderungen entsprechen, die aus dem jeden Tag neuen Verständnis des Glaubens erwachsen, in jedem geschichtlichen Moment neu. Selbst unsere Art, den Glauben zu verstehen, müssen wir diesem Proze des Beurteilens unterwerfen, da unsere Art und Weise den Glauben zu leben eventuell dem Reich Gottes und den Handlungen und Erlebnissen Jesu entgegenstehen kann.
a) Verkündigung und Erleben.

Die Gemeinschaft der Jünger von Jerusalem versuchte nach dem Tode Jesu eine Verkündigung und eine Praxis auszuüben, die der Botschaft Jesu gemäß war: einige nennen es heute den christlichen Güterkommunismus (Apostelgeschichte 4,6).

Die Gemeinschaft von Jerusalem verkörperte zwei Sorgen: die Verkündigung des Evangeliums in erster Linie an die Armen und das gemeinschaftliche Erleben in Einklang mit Jesu Evangelium. Von dieser Gemeinde können wir lernen. Trotz der Verwirrung, die der Tod Jesu verursacht hatte, versuchten sie, die Praxis des Evangeliums zu leben als eine Antwort auf die grundlegenden Bedürfnisse der Armen, der Witwen und der anderen Proletarier.
Dieses Modell der christlichen Gemeinde, das uns die Apostelgeschichte erzählt, hat soviel Interesse hervorgerufen, daß auch einige nichtchristliche Autoren wie z.B. Karl Kautsky in seinem Buch "Ursprung und Grundlagen des Christentums" in dieser Gemeinde einige kommunistische Tendenzen erkennen konnten. Selbstverständlich denkt Kautsky hier nicht an komplexe wechselseitige Theorien, sondern an eine Art primitiven Kommunismus. Kautsky sagt in seinem Buch, daß "der Kommunismus, den das primitive Christentum anstrebte, im Einklang mit den Bedingungen seiner Zeit war - ein Kommunismus der Konsumartikel, ein Kommunismus der Verteilung".

Einige biblische Kommentatoren wie z.B. Alfred Wickenhauser sorgten sich mehr darum, die These zurückzuweisen, daß Christen in den ersten Jahrhunderten eine Art von Kommunismus gestalteten, als herauszuheben, daß hier tatsächlich ein Versuch stattfand, ein pastorales Modell zu entwickeln, das der Verkündigung des Reiches Gottes entsprechen wollte. Sehen wir uns einige Sätze dieses christlichen Autors an: "Auf Grundlage dieser Verse (Apostelgeschichte 2,44-45; 4,32-37), redete man von einem Kommunismus der ersten Christen, und wollte diese präsentieren als Vorläufer des gegenwärtigen sozialistischen Kommunismus; aber dies war falsch". Später sagt Wickenhauser: "Man könnte höchstens von einem 'religiösem Kommunismus der Wohlfahrt' reden; aber es wäre zu bevorzugen, den Gebrauch dieses falschen Begriffes zu vermeiden".

Die Diskussion dieses Problems hat mittlerweile in dem modernen Denken Geschichte gemacht. Dennoch, wichtig ist es nicht, ein Urteil abzulegen über die Existenz oder Nichtexistenz einer kommunistischen Praxis der ersten Christen, wichtig ist zu sehen, da hier eine Anstrengung unternommen wurde, um den Erwartungen des Evangeliums an das Reich Gottes zu entsprechen.

b) Verkündigung und pastorale Praxis: Ein prophetischer Akt.
Wir können das Vater Unser nicht beten, wenn wir uns nicht in eine Gemeinschaft im Dienste des Reiches Gottes verwandelt haben.

Wahrscheinlich hat sich die christliche Gemeinschaft von Jerusalem, von der uns die Apostelgeschichte in den Kapitel 2 bis 4 erzählt, in vielen Sachen geirrt. Aber sie hinterließ uns ein sehr wertvolles Zeugnis, auch als ein Zeugnis für die Gegenwart. Wir müssen diese Anstrengung verstehen als eine Anstrengung, um gemäß der Lehre und Verkündigung Jesu zu leben.

Auch unsere heutige pastorale Praxis hat ein Gegenüber, genauso wie unsere Predigten in der Kirche oder im Radio. Die Frage hier ist nicht alleine: In welcher Weise werden unsere Predigten gehört?, sondern auch: In welcher Weise wird unsere pastorale Praxis erfahren? Eine Frage die hier unterschwellig präsent ist lautet: für wen predigen wir und für wen entwickeln wir unsere pastorale Praxis? Gleich welches Modell von pastoraler Praxis wir auch übernehmen, dieses muß darauf aus sein, ein Leben zu fördern, das auf das radikale Reich Gottes gerichtet ist, in den Räumen, die heute in Lateinamerika freigeworden sind.
Deshalb dürfen wir keine der Anstrengungen und der Organisationen geringschätzen, die in unseren Ländern entstehen, und eine Antwort geben wollen auf die grundlegenden Bedürfnisse des Menschen. Diese Organisationen zu fördern darf nicht alleine Angelegenheit des Staates sein, oder von Entwicklungsorganisationen, sondern wir müssen sie als unsere eigene Sache begreifen.
Wir dürfen auch die Volks-Bewegungen nicht geringschätzen, die für das Entstehen von sozialer Gerechtigkeit in unseren Ländern kämpfen. Wir dürfen nicht nur ein inkarniertes Wort sprechen, wir selber müssen es wagen, eine pastorale Praxis zu entwickeln, die auf das Reich Gottes und auf die Praxis Jesu hingerichtet ist. Nur ausgehend von der Ausübung einer herausfordernden Gerechtigkeit können wir eine prophetische Praxis entwickeln.

Originaltitel: "Una Pastoral para el Reino de Dios", in: Mission Evangélica Hoy, Zeitschrift für eine evangelische und nicaraguanische pastorale Praxis, hrsg. v. CIEETS, Managua, Nicaragua, Nummer 1, Dezember 1988

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